UNTERNEHMERIN

Über das Auto hinaus – Mobilität im ländlichen Raum

Auf dem Land zu leben liegt im Trend. Doch Vorteile wie günstige Mieten und die Nähe zur Natur kommen mit einem großen Nachteil: Das Mobilitätsangebot im ländlichen Raum ist lückenhaft. Zurückgebaute Bahnstrecken, sporadische Busverbindungen, Klimaziele, die ein Umdenken bei der Mobilität mit sich bringen – die Aufgaben liegen auf der Hand.

Das „Warten auf’n Bus“ ist selten so unterhaltsam wie in der gleichnamigen rbb-Serie mit Grimme- Preis-Nominierung. Linienbusse im ländlichen Raum – also in den Gegenden, in denen immerhin 23 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik leben – dienen vor allem dem Schüler*innenverkehr. Sie sind zu den Stoßzeiten also voll, zwischendurch ineffizient frequentiert, abends und an den Wochenenden nur sehr reduziert im Einsatz. Fahrpreiskonzepte sind überall dort, wo Einzelunternehmen noch  keinen Verkehrsverbund gebildet haben, Flickenteppiche. Grenzen zwischen Landkreisen oder gar Bundesländern stellen ganz besondere Herausforderungen dar.

„Es gibt bisher keine Pflicht zur interkommunalen Kooperation“, so Dr. Melanie Herget, die sich an der Universität Kassel mit Verkehrsplanung und Verkehrssystemen befasst. Die angestrebte Verkehrswende, der sich auch die aktuelle Bundesregierung mit ihrem Klimaschutzprogramm verpflichtet hat, bedarf eines Umdenkens an vielen Fronten. Jutta Kuhles, Präsidiumsmitglied des Deutschen LandFrauenverbands, sagt: „Aus unserer Sicht ist es mit einer Antriebswende allein nicht getan. Damit die Mobilitätswende auf dem Land gelingen kann, müssen viele Aspekte berücksichtigt und Teilhabe, Erreichbarkeit sowie Klimaschutz miteinander in Einklang gebracht werden. Das heißt vor allem, auch die Stadt- und Dorfentwicklung konsequent mitzudenken: Nur wenn wohnortnahe Daseinsvorsorge und ein flächendeckender Glasfaserausbau sichergestellt sind, können die vielen und oft weiten Wege auf dem Land vermieden und der Pkw-Verkehr reduziert werden.“ Denn „die Nachteile des Pkw sind in den ländlichen Räumen weniger direkt erfahrbar“, sagt Melanie Herget. Sicher auch ein Grund, weshalb im ländlichen Raum nur zehn Prozent der Haushalte keinen eigenen Pkw unterhalten, während in den Städten volle 42 Prozent ohne Auto auskommen. Doch wofür wird der Pkw vor allem genutzt, und welche Alternativen gäbe es?

Hier fällt auf, dass das Mobilitätsverhalten – und damit auch der CO₂-Fußabdruck – geschlechtsspezifisch unterschiedlich ist. Frauen leisten nach wie vor den größten Anteil an Carearbeit, das heißt, sie übernehmen mehr Verantwortung für die Organisation von Familie und Haushalt. Wo Männer, die im ländlichen Raum leben, eher in größeren Autos – nicht selten Dienstwagen – und auf längeren Strecken vorwiegend linear zur Arbeit unterwegs sind, verhält es sich für Frauen anders: Auf dem Arbeitsweg liegen meist noch Stopps bei der Kita oder Schule, beim Supermarkt, bei Kinderärzt*inpraxis und Apotheke oder dem Nachmittagshobby des Kindes. Ebenso haben Senior*innen andere Mobilitätsbedürfnisse und -fähigkeiten als Arbeitnehmer*innen, Auszubildende andere als Schüler*innen. Entsprechend gibt es nicht die eine Mobilitätslösung für den ländlichen Raum.

Vielfältig wie die Bedürfnisse an die Mobilitätsinfrastruktur sind daher auch die Ideen und Konzepte, die es immer wieder in die Testphase schaffen – entstanden aus Verzweiflung oder Idealismus. Vom Rufbus mit oder ohne Haustürbedienung über den Bürgerbus, der vom Bundesland subventioniert, aber aus privatbürgerlichem Engagement betrieben wird, zu privaten Carsharing-Verbünden oder Mitfahrbänken – Ideen und Versuche gibt es viele. „Vor allem in sehr dünn besiedelten Regionen sind kreative Lösungen gefragt. Es kann aber nicht sein, sich darauf auszuruhen, dass das Ehrenamt die Lücken schon füllen wird“, fordert Jutta Kuhles. Melanie Herget sieht das ähnlich: „Ehrenamt muss flankiert werden von stabiler öffentlicher Unterstützung. Mindestbedienstandards sollten zur Selbstverpflichtung der Bundesländer werden. Die Schweiz macht es uns vor, mit einer verlässlichen Struktur des öffentlichen Personennahverkehrs.“

Doch wenn Bahnstrecken eher ab- als ausgebaut werden, ist es an den Ländern, Alternativen zu schaffen. Sieben Bundesländer – darunter Brandenburg, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen – haben bereits „landesbedeutsame Buslinien“ etabliert. Diese Verbindungen sollen ein solides Busnetz zwischen allen Mittelzentren bilden, wenn (noch) kein Schienenverkehr gewährleistet ist. Hier übernimmt das jeweilige Land die Verantwortung für die Standardisierung des Angebots, das bedeutet unter anderem schnelle Busse, sichere Taktungen und WLAN an Bord.

Dennoch ist es nach wie vor so, dass der Weg mit dem Bus von A nach B deutlich länger dauert als mit dem Pkw. Nicht zuletzt deshalb stellt Daniela Kluckert, MdB (FDP) und Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Digitales und Verkehr, klar: „In den öffentlichen Nahverkehr muss investiert und er muss innovativer in der Fläche werden. Das machen wir mit dem Ausbau- und Modernisierungspakt von Bund, Ländern und Kommunen. Für den Klimaschutz brauchen wir jedoch mehr: neue Antriebe und neue Kraftstoffe wie E-Fuels. Wir wollen Leitmarkt für Elektromobilität werden. Dafür bauen wir beispielsweise bis 2025 das Deutschlandnetz – also Schnellladehubs, die dafür sorgen, dass jeder Ort in Deutschland mit dem E-Auto erreichbar ist. Die Abschaffung des Autos zu fordern, wie das von einigen getan wird, ist illusorisch und, ehrlich gesagt, nicht redlich. Gerade im ländlichen Raum wird der eigene Pkw auch in Zukunft eine große Rolle spielen.“

Dabei liegt der Fokus vor allem auf Stationen entlang den Autobahnen, also an öffentlichen und privaten Raststätten. Bisher befindet sich etwa jede vierte Ladestation in einem Parkhaus oder an einem Parkplatz, zwei Drittel dieser Stationen sind bereits auf schnelles Laden ausgerichtet. Der Trend in der Bundesrepublik ist dauerhaft steigend. Im ländlichen Raum jedoch macht sich das bisher kaum bemerkbar. Aufgrund der im Vergleich zur Stadt unterschiedlichen Wohnumstände wird die überwiegende Zahl der Halter*innen von E-Fahrzeugen Interesse daran haben, das Fahrzeug auf dem heimischen Grundstück zu laden. Will man die Menschen zum Umstieg in den ÖPNV bewegen, braucht es, wie Melanie Herget verdeutlicht, eine Kombination von Strategien wie etwa Parkraumbewirtschaftung oder Citymaut in den Zentren in Kombination mit ausreichend Parkplätzen und Lademöglichkeiten an Bus- und Bahnstationen.

Wobei auch das Fahrrad mitgedacht werden muss. Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg hat darum die Vernetzungsstelle Bike + Ride etabliert: Unter anderem sollen ausreichende, geschützte und sichere Fahrradstellplätze geschaffen werden, um die Bürger*innen zu motivieren, ihr Rad an der Station zurückzulassen. Auch Pedelec-Ladestationen müssen mitgedacht werden. In den Großstädten kommen auf 1000 Einwohner*innen etwa 20 E-Bikes, im ländlichen Raum ist der Wert etwa dreimal so hoch. Zugleich ist der Ausbau von Radwegen im ländlichen Raum ein Dauerbrenner. „An jede Land-straße gehört ein Radweg“, fordert Professor Dr.-Ing. Thomas Richter von der TU Berlin. Die Hürden hierbei sind allerdings mannigfaltig: Vielerorts besteht inzwischen ein Flickenteppich von Radwegen, weil bei Straßenarbeiten wann immer möglich ein Radweg mit angelegt wird. Dies scheitert jedoch häufig an den Eigentümer*innen anliegender, dafür benötigter Grundstücke. Weiterhin finden sich Kommunen nicht selten in der Situation, mit Blick auf ihr Budget zwischen Schwimmbad und Radweg entscheiden zu müssen. Da kann die Priorisierung schwerfallen.

Es sind die Kommunen, die so manchen Bedarf – auch hinsichtlich Mobilität – zuerst erkennen. Eine enge Abstimmung zwischen Bund und Kommunen ist daher essenziell. Dies ist auch Voraussetzung für ein Ziel, das auch die Wirtschaft sehr klar formuliert: Der Ausbau dauert allerorts zu lang, Planungs- und Genehmigungsverfahren müssen deutlich beschleunigt werden. Die aktuelle Bundesregierung strebt die Halbierung der derzeitigen Zeiträume an.

Ein Traum von Effizienz, den das oberbayrische Unternehmen DELO aufgegeben hat. Seit inzwischen sieben Jahren beteiligt sich das Unternehmen am Ausbau eines Fahrradwegs zum eigenen Werksgelände. Knapp sieben Kilometer sind es bis zum Bahnhof Geltendorf – unter anderem Endstation der S-Bahn aus München. Circa 800 Angestellte hat der Familienbetrieb an diesem Standort, die allermeisten pendeln. Der Bus ist keine wirkliche Hilfe, fährt er doch nur unregelmäßig –und ist damit keine Option für Beschäftigte in Teilzeit oder bei flexiblen Arbeitszeiten, wie sie hier gern ermöglicht werden. „Die Zusammenarbeit mit den beiden beteiligten Gemeinden ist grundsätzlich nicht das Problem“, betont Matthias Stollberg von DELO. Jedoch ist es eine Sammlung von Erschwernissen wie im Bilderbuch, beinahe eine Karikatur von allem, was im deutschen Genehmigungswesen schiefgehen kann: Erst waren es Haselmäuse, die man hier nistend vermutete, also wurde der Winterschlaf abgewartet, um dann festzustellen: grünes Licht an dieser Front. Bereits bewilligte Fördermittel konnten nicht mehr abgerufen werden, weil der Genehmigungsprozess zu lang gedauert hatte. Die Idee eines Glasfaserkabels unter dem Radweg – der im Übrigen recht unkompliziert anzulegen wäre, da er nicht betoniert werden soll – machte es erneut komplexer, bis festgestellt wurde, dass es nun eines bisher nicht eingeplanten Erdwalls bedarf, damit der angrenzende Landwirt, wenn er auf seinem Land jagt, nicht versehentlich Radfahrer*innen vor der Flinte hat. Kurzum: ein Drama in zahlreichen Akten, das Ende bisher nicht in Sicht.

Überhaupt ist das Thema von Mobilität im ländlichen Raum nicht nur aus Sicht der Privatperson zu denken. Die hier angesiedelten Unternehmen haben ein großes Interesse daran, zuverlässig und effizient angebunden zu sein. Unter den unzähligen kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland befinden sich etwa 1700 Hidden Champions wie DELO – rund 20 Prozent von ihnen sind im ländlichen Raum angesiedelt. Diese Firmen sind wesentlich für den Wirtschaftsstandort Deutschland, sie benötigen gut funktionierende, schnelle Aus- und Anliefernetze. Sie brauchen Fachkräfte, die mit ihren Familien gern und gut arbeitsortnah leben. Sie sind wichtig für die Sozialstruktur ihrer Region. So fordert auch die deutsche Industrie, die vielen Mittelständler*innen und Familienunter-nehmen, die oft seit Generationen im ländlichen Raum wurzeln, im Blick zu haben. Diese Standorttreue wird – etwa durch steigende Kosten, marode Infrastruktur und zähe Genehmigungsverfahren – zunehmend zum Wettbewerbsnachteil. Der Rahmen, der Unternehmer*innen als steuerzahlende Arbeitgeber*innen und Ausbilder*innen vor Ort hält und neue Investitionen ermutigt, muss attraktiver werden. Das hilft auch dabei, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Land und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.

Es braucht die Digitalisierung, auch im Hinblick auf das komplexe Konstrukt aus Mobilität und Klimaschutz. Gegenden, die solide digitalisiert sind, ermöglichen das Homeoffice als eine zuverlässige Alternative, durch die Wege wegfallen können. Die Voraussetzungen müssen bei den Anbieter*innen der Dienstleistung geschaffen und der Zugriff darauf parallel durch den entsprechenden Infrastrukturausbau auch für die Bewohner*innen des ländlichen Raumes geschaffen werden.

Natürlich wird dieser Wandel nicht jede*n Bewohner*in mitnehmen, ebenso wie sich nicht jede*r Bewohner*in aufs Pedelec schwingt oder per App den On-Demand-Nahverkehr nutzt. Sie existiert nicht, die eine Lösung für jede*n in jeder Region. Aber wenn man sich von diesem Anspruch frei macht, dann gibt es die Ideen, es gibt das Bewusstsein für die Herausforderungen, und es gibt die technischen Voraussetzungen dafür, dass der ländliche Raum eine Trendumkehr schafft und vielleicht sogar Testgebiet für Modelle werden kann, von denen auch die Metropolregionen sich eine Scheibe abschneiden können.

Text: Anne Rudelt
Foto: Roberts Viksne/Shutterstock

Dieser Artikel wurde erstmals in der UNTERNEHMERIN (2022/01) veröffentlicht.