Herr Dr. Petersen, nach der Pandemie gewinnt der Trend zur Rückbesinnung auf regionale Märkte an Bedeutung. Welche Vorteile bringt denn die Regionalisierung?
Zwei Fälle muss man unterscheiden. Erstens: deutsche Unternehmen, die in Deutschland produzieren und Produkte im Ausland verkaufen. Für diese Unternehmen lohnt es sich, ihren Produktionsort in das Absatzland zu verlagern. Der Vorteil ist, dass man Transportkosten spart. Das ist vor allem dann ein relevantes Argument, wenn die Energiepreise weiterhin steigen; solche Steigerungen können sich auch aus höheren staatlichen CO2-Preisen ergeben. Außerdem kann flexibler auf geänderte Anforderungen der Kunden im Ausland reagiert werden. Bei Massenware von der Stange ist das nicht so bedeutend. Im Umgang mit Kunden, die sich an Produktdifferenzierungen bis hin zu personalisierten Produkten gewöhnt haben, ist hingegen Flexibilität gefordert. Weiterer Vorteil einer Produktionsverlagerung ins Absatzland: Man umgeht Handelshemmnisse. Denn Zölle auf Importe aus dem Ausland entfallen bei im Inland produzierten Produkten. Gleiches gilt auch für nicht tarifäre Handelshemmnisse, zum Beispiel aufwendige Einfuhrformulare. Wer eine Produktionsanlage vor Ort hat, kann dort eher von Subventionen profitieren und bei öffentlichen Ausschreibungen gegebenenfalls leichter zum Zuge kommen.
Und wie sieht der zweite Fall aus?
Ein Unternehmen in Deutschland, das in Deutschland produziert und Vorleistungen oder sogar Endprodukte aus dem Ausland kauft. Hier lohnt sich die Überlegung, die komplette Produktion nach Deutschland zu verlagern – das sogenannte Reshoring. Oder ein „Nearshoring“, also eine Produktion im nahe gelegenen Ausland. Auch in diesen Fällen würde man Transportkosten einsparen und die Importabhängigkeit insgesamt reduzieren. Zudem können hohe Qualitätsanforderungen besser eingehalten werden. Bei einfacher Massenware wie etwa Turnschuhen oder T-Shirts ist das kein Problem, bei technisch anspruchsvollen, komplexen Produkten hingegen schon. Um die Produktionskosten im Inland zu senken, wird der Einsatz von Kapital, also Robotern und anderen Maschinen, und Technologien, also Digitalisierung und Automatisierung, an Bedeutung gewinnen.
Wann lohnt sich das Reshoring konkret?
Sind Produktionsprozesse bereits digitalisiert und automatisiert, lohnt sich eine solche Rückverlagerung möglicherweise jetzt schon. Liegt allerdings nur eine Unterbrechung der Lieferketten vor, ist es für Unternehmen momentan schwierig zu entscheiden, ob sie wirklich die Produktion nach Deutschland zurückverlagern sollen. Reshoring kann teuer sein, der Aufbau neuer Produktionsanlagen kostet Geld. Und sobald Lieferketten wieder funktionieren, sind die Unternehmen, die weiterhin mit den preiswerten Leistungen aus dem Ausland arbeiten, klar im Vorteil. Zwar wird derzeit viel über Reshoring gesprochen, in der Realität findet es aber noch nicht so umfangreich statt. Ich gehe eher davon aus, dass viele Unternehmen auf verschiedene Zulieferer zurückgreifen und verstärkt mit Vorratspuffern arbeiten werden, indem sie ihre Lagerhaltung hochfahren. Die Folge sind höhere Produktionskosten, die jedoch als eine Art Versicherungsprämie gegen drohende Lieferkettenunterbrechungen zu sehen sind.
Sie hatten das Nearshoring erwähnt – wie könnte dieser Weg konkret aussehen?
Unternehmen suchen sich zusätzliche Zulieferer, die geografisch nicht so weit entfernt sind, zum Beispiel in Osteuropa – gern auch regional differenziert, sodass man ausweichen kann, wenn einer der Zulieferer ausfällt. Die Just-in-time-Produktion, also die Produktion ohne große Lagervorräte, und die Zusammenarbeit mit nur einem einzigen, preiswerten Zulieferer waren schon lange vor der Coronakrise sehr anfällig. Auch das Nearshoring wird künftig an Relevanz zunehmen.
Gewinnt Osteuropa also an Bedeutung?
Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Die Kostenvorteile gegenüber den westlichen europäischen Ländern sind immer noch groß. Eine Frage ist aber, wie sich die CO₂-Zertifikatspreise entwickeln werden. Die EU will ja bis 2050 klimaneutral werden. Das bedeutet: Die Emissionszertifikate werden verknappt, und die Preise werden steigen – für die osteuropäischen Länder wird das eine Herausforderung, weil dort momentan noch sehr energie- und emissionsintensiv produziert wird.
Welche Branchen könnten von dieser „neuen Regionalisierung“ besonders profitieren?
Zunächst einmal könnten das alle Branchen, die dafür sorgen, dass die Produktionskosten in Deutschland sinken, also etwa Anbieter von Produkten und Dienstleistungen im Bereich Digitalisierung und Automatisierung. Auch Unternehmen, die im Bereich 3-D-Druck tätig sind, werden langfristig einen Wettbewerbsvorteil haben – ich gehe stark davon aus, dass diese Technologie in den kommenden Jahren einen Schub erleben wird, auch wenn sie momentan noch in den Kinderschuhen steckt. Profitieren werden auch die Logistikbranche, die gesamte Recyclingbranche sowie Firmen, die im Bereich Solar- und Windenergie Importprodukte ersetzen und damit die Importabhängigkeit von fossiler Energie reduzieren können.
Und was ist mit der IT-Branche?
Auch Unternehmen, die digitale Angebote machen, werden ganz klar von solchen regionalen Modellen profitieren, weil das eben die Digitalisierung voranbringen wird. Somit wird nach und nach der Kostennachteil abgebaut, den wir derzeit gegenüber Zulieferern aus Asien haben. Die Frage ist: Wie gehen wir mit der Abhängigkeit von Chips und Halbleitern um? Die großen Industrienationen arbeiten daran, die Halbleiterproduktion vor Ort wettbewerbsfähig zu machen. Die USA etwa haben mit ihrem „US Chips Act“ Fördermittel in Milliardenhöhe freigegeben. Die EU will mit einem europäischen „Chips Act“ dafür sorgen, dass sich der Weltmarktanteil der EU an Halbleitern bis 2030 von derzeit zehn Prozent auf mindestens 20 Prozent verdoppelt. Momentan sind ja die Zulieferer aus Asien in diesem Bereich immer noch preiswerter. Wollen Europa und die USA die Importabhängigkeit reduzieren, dann wird das aus meiner Sicht nicht ohne staatliche Unterstützung funktionieren.
War man in der Vergangenheit ein wenig naiv?
Ja, ein wenig sicherlich – die Just-in-time-Produktion mit dem weltweit günstigsten Anbieter war lange lukrativ und hat jahrelang gut funktioniert. Mit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 kamen die ersten Handelsstreitigkeiten. Zuletzt ist die Just-in-time-Produktion immer anfälliger geworden. Unternehmen stellen fest, dass sie teilweise übertrieben haben und jetzt wieder mit größerer Lagerhaltung und gegebenenfalls auch mit mehreren Zulieferern arbeiten müssen, um sich nicht mehr so abhängig zu machen.
„Made in Germany“ könnte also wieder an Bedeutung gewinnen?
Ja – aber die Produkte werden dann teuer. Das ist die Kehrseite der Medaille. Die Verringerung der Importabhängigkeit hat eben ihren Preis. Kehren wir davon ab, hat das höhere Kosten zur Folge, und die müssen entweder die Verbraucher*innen bezahlen, oder der Staat springt ein.
Welche zukunftsfähigen Modelle gibt es noch?
Digitalisierung und Automatisierung werden grundsätzlich immer wichtiger – auch Maßnahmen, die die Energie- und Rohstoffproduktivität erhöhen. Das erreicht man mithilfe von Technologien, aber auch durch neue Konsum- und Produktionskonzepte wie etwa Sharing Economy und Circular Economy. In Zukunft wird es vermehrt darum gehen, Rohstoffe wiederzuverwenden und damit den Primärrohstoffbedarf zu reduzieren. Dazu müssten wir auch die Lebenszeit von Produkten massiv erhöhen – zum einen technologisch, zum anderen durch ein verändertes Konsumverhalten, wo es viel mehr um Wartung und Pflege von Produkten geht. Langfristig schont das Ressourcen und senkt den Energieverbrauch.
Da ist ein Umdenken auf beiden Seiten gefragt, oder?
Deutschland will ja schon 2045 klimaneutral sein, und das Thema Energie- und Rohstoffproduktivität rückt immer stärker in den Fokus. Dann wird überwiegend der Preis entscheiden – gehen die CO2-Preise nach oben, werden auch Produkte, die Emissionen verursachen, teuer. Ich denke, dass die Unternehmen aus reinem Eigennutz auf diese zirkuläre Ökonomie umsteigen werden. Daraus können ganz neue Geschäftsmodelle entstehen. So könnte ein Hersteller von Waschmaschinen zukünftig seine Geräte vermieten und sich um Wartung und Pflege kümmern. Solche Leasingmodelle kennen wir bereits aus der Automobilindustrie.
Könnte sich die Regionalisierung langfristig durchsetzen?
Eine komplette Regionalisierung würde keinen Sinn machen und zu massiven Einkommensverlusten führen. Eine internationale Arbeitsteilung wird es auch in Zukunft geben, allerdings werden wir neue Formen einer internationalen Zusammenarbeit sehen. Neue Freihandelsabkommen werden geschlossen, und es wird weitere Formen der Globalisierung geben. Zum Beispiel klimaneutrale Energie. Sonnen- und wasserreiche Regionen werden hierbei einen klaren Kostenvorteil haben. Vielleicht werden erneuerbare Energien dann nicht in Deutschland produziert, Wasserenergie könnte aus Skandinavien kommen und Solarenergie aus Nordafrika und Südeuropa.
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ZUR PERSON
Dr. Thieß Petersen ist Senior Advisor der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh im Programm „Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft“ und Lehrbeauftragter an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.
Interview: IunIa Mihu
Grafik: NESPIX / Shutterstock
Foto: Steffen Krinke / Bertelsmann Stiftung
Dieses Interview wurde erstmals in der UNTERNEHMERIN (2023/1) veröffentlicht.