UNTERNEHMERIN

Quo vadis, künstliche Intelligenz?

Die Entwicklung von Anwendungen und Prozessen auf Basis von Algorithmen und neuronalen Netzwerken schreitet mit Riesenschritten voran. Trotzdem sind viele Unternehmen noch skeptisch. Dabei ist das Potenzial enorm.

Was für ein Bild hätten Sie gern? Wie wäre es mit einem frühromantischen Naturgemälde im Stil von Caspar David Friedrich? Oder lieber ein Comic-Nilpferd, das durch den Weltraum fliegt? Bei OpenAI, einem der weltweit ehrgeizigsten Labore für künstliche Intelligenz (KI), gegründet von Elon Musk und mit einer Milliarde US-Dollar finanziert von Microsoft, haben Forscher*innen eine Technologie entwickelt, mit der jede*r digitale Bilder erstellen kann. Dazu muss man nur in ein Textfeld eine Beschreibung eingeben. Einige Sekunden später erscheinen dann mehrere Bildoptionen. Wenn man jetzt doch lieber eine Katze haben möchte als ein Nilpferd, ist das auch kein Problem.

Sieben Jahre haben die Entwickler*innen bei OpenAI an dem Programm gearbeitet, das sie im Oktober 2022 für alle Menschen zugänglich gemacht haben. Es wurde mit Hunderten Millionen Bildern trainiert, mehr als ein noch so großes Team von Menschen sich je ansehen könnte. Das Programm heißt DALL-E in Anlehnung an „WALL.E“, einen Animationsfilm von 2008 über einen autonomen Roboter, und Salvador Dalí, den surrealistischen Maler. OpenAI will die Software langfristig Grafiker*innen anbieten, als Inspiration und Werkzeug beim Umgang mit digitalen Bildern. Auf den ersten Blick wirkt das Ganze ein wenig wie eine nette Spielerei, allen zugänglich unter openai.com. Für viele Expert*innen aber markiert DALL-E einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg der Integration künstlicher Intelligenz in den Alltag. Denn anschaulicher lässt sich kaum zeigen, wie KI funktioniert.

Schon vor etwa fünf Jahren haben Entwickler*innen der weltweit führenden Firmen Systeme erstellt, die Objekte in digitalen Bildern identifizieren und sogar selbst Bilder erzeugen können, etwa Blumen, Hunde, Autos und Gesichter. Ein paar Jahre später bauten sie Systeme, die das Gleiche mit geschriebener Sprache tun konnten: journalistische und wissenschaftliche Artikel zusammenfassen, Fragen beantworten, Tweets generieren und bald Blog-Posts schreiben konnten. DALL-E ist die Kombination aus beiden und ein bemerkenswerter Schritt, weil es mit den an sich verschiedenen Bausteinen der Sprache und der Bilder jongliert und in einigen Fällen die Beziehung zwischen beiden erfasst.

DALL-E ist das, was KI-Forscher*innen ein neuronales Netzwerk nennen, ein mathematisches System, das entfernt dem Nervenzellgeflecht im Gehirn nachempfunden ist. Es ist die gleiche Technologie, die in das Smartphone gesprochene Befehle erkennt und die Anwesenheit von Fußgänger*innen identifiziert, wenn ein selbstfahrendes Auto sich durch die Straßen bewegt. Ein neuronales Netzwerk lernt Fähigkeiten, indem es große Datenmengen analysiert. Durch das Auffinden von Mustern in Tausenden von Avocado-Fotos kann es lernen, eine Avocado zu erkennen. DALL-E sucht diese Muster, indem es Millionen digitaler Bilder sowie Textbeschriftungen analysiert, die für jedes Bild angeben, was es darstellt. Auf diese Weise lernt das Programm, die Verbindungen zwischen den Bildern und den Wörtern zu erkennen.

Damit ist DALL-E ein Teil des großen Sprungs, in dem sich künstliche Intelligenz aktuell befindet. Der Sachbuchautor und Technologiejournalist Thomas Ramge beschreibt die Entwicklung als „Kitty-Hawk-Moment“. Wie die Brüder Wright, die Pioniere des Motorflugs, haben auch die KI-Propagandisten oft große Versprechungen gemacht, und sind dann übel abgestürzt. Doch 1930 schafften es die Brüder Wright, im US-Städtchen Kitty Hawk 59 Sekunden lang in der Luft zu bleiben. Der Durchbruch für die Luftfahrt.

Auch die künstliche Intelligenz hat schon seit Längerem abgehoben. Bei der Diagnose von Krebszellen sind Rechner mit ihrer Hilfe genauer als die besten Ärzt*innen. Nicht nur in kreativen Brettspielen wie Go schlagen KI-Systeme die Menschen, sie können im Poker auch besser bluffen. Künstliche Intelligenz ist in unseren Alltag vorgedrungen („Hey Siri“) und macht Unternehmen erfolgreicher. Bei Bridgewater, dem weltweit größten Hedgefonds, entscheiden Algorithmen nicht nur darüber, wo investiert wird – auch die Mitarbeiter*innen analysiert ein System wie ein Robo-Boss. Es überprüft sämtliche Daten und entwirft so die Geschäftsstrategie, stellt das nach diesen Kriterien bestmögliche Team für eine Aufgabe zusammen und gibt Empfehlungen, wer befördert werden soll – und wer entlassen.

Vielen macht das Angst. Software und Maschinen werden Millionen Arbeitsplätze vernichten, sagen sie. Sie warnen, mit Werkzeugen wie DALL-E ließen sich sogenannte Deepfakes erstellen, gefälschte Videoclips oder Dokumente, mit denen Nachrichten manipuliert werden und so die Politik beeinflusst wird. Der Oxford-Philosoph Nick Bostrom fürchtet sogar die totale Machtübernahme der Maschinen und das Ende der Menschheit.

Das ist nicht alles ganz von der Hand zu weisen, dennoch wirken solche Thesen ein wenig alarmistisch. Wenn sie aber mehr Menschen dazu bringen, sich mit künstlicher Intelligenz näher zu beschäftigen, dann haben sie einen wichtigen Beitrag geleistet. Denn viele weisen das Thema von sich, vielleicht aus Angst. Aber auch aus einer Grundhaltung heraus, dass künstliche Intelligenz ja ohnehin viel zu komplex sei, um sie zu durchdringen.

Gerade in kleineren und mittelständischen Unternehmen scheint es noch immer eine Abwehrhaltung zu geben. „KI kommt im Mittelstand nicht an“, sagte Kristian Kersting, Professor für Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen an der TU Darmstadt, dem „Handelsblatt“. KI sei eben keine Box, die sich irgendwo als Motor einbauen lässt, wie es der mittelständische Ingenieur vielleicht gewohnt ist.

Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau hat vor gut einem Jahr eine Studie veröffentlicht, deren Auswertung zeigt: Nur 41 Prozent der kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland haben schon Erfahrungen mit KI gesammelt. Unter diesen liegt der Anteil derjenigen, die KI-Anwendungen tatsächlich einsetzen, bei 44 Prozent. Ganz anders hingegen die Situation bei Großunternehmen: Dort haben 82 Prozent bereits Erfahrungen im Umgang mit KI gesammelt oder planen konkret den Einsatz von KI-Anwendungen; 65 Prozent verwenden sie aktuell in ihrem Unternehmen.

Ähnliche Erkenntnisse liefert eine Deloitte-Studie. Die Zurückhaltung des Mittelstands erklären die Autor*innen mit häufig fehlenden Kenntnissen über die Potenziale von KI, den nicht erkannten Nutzen nach ersten KI-Projekten oder der unzureichenden Digitalisierung des Unternehmens. Oft würden die Unternehmen noch volle Auftragsbücher abarbeiten und sähen deshalb keinen Anlass, ins KI-Zeitalter aufzubrechen. Auch passendes Personal suchen sie in Zeiten des Fachkräftemangels oft vergebens.

Dabei bieten KI-basierte Systeme und die Automatisierung auch für KMU enormes Potenzial. Die Einsatzfelder reichen von Assistenzsystemen für Routineaufgaben über intelligente Chatbots im Kundenmanagement und KI-unterstützte Simulation in der Produktentwicklung bis hin zur automatisierten Lagerhaltung. Wie wirkungsvoll der Einsatz künstlicher Intelligenz auch für ein klassisches mittelständisches Unternehmen sein kann, zeigt das Beispiel des Berliner Spritzguss-Spezialisten India Dreusicke.

Das Unternehmen existiert seit 1929 und stellte ursprünglich Gummikappen für Schreibmaschinen her, um die Finger zu schonen, sogenannte India-Gummitasten. Heute ist die Firma mit rund 100 Beschäftigten spezialisiert auf die Verarbeitung von Kunststoff und die Bearbeitung von Stahl.

Sie produziert dabei unter anderem Gehäuse für die Telekommunikationsindustrie (beispielsweise WLAN-Router) und den Maschinenbau. Die rund 70 Maschinen bei India Dreusicke müssen ständig gewartet werden. Dazu ist es notwendig, die Spritzgussformen komplett zu zerlegen und Präzisionsteile zu schmieren, da sich die Schmierung im Laufe des Prozesses abnutzt. Diese Wartung ist für die Beschäftigten zeit- und ressourcenintensiv. Doch ohne sie können Schäden an der Form oder den Produkten entstehen, die einen längeren Stillstand, einen Produktionsausfall und damit hohe Kosten verursachen würden. Nach Erfahrungswerten der Beschäftigten ist die Wartung alle drei bis fünf Tage notwendig, der genaue Zeitpunkt ist aber aufgrund unterschiedlicher Anlagenkonstruktionen nicht exakt zu bestimmen.

Gemeinsam mit einem Start-up hat das Unternehmen ein knappes Jahr lang Daten seiner Maschinen gesammelt, etwa Geräusche, die anzeigen, ob sich die Maschine im Normalzustand befindet oder gewartet werden muss. Damit wurde anschließend ein KI-System trainiert. Das erkennt anhand akustischer Impulse, die für die Beschäftigten nicht hörbar sind, wann das optimale Zeitfenster für die Wartung der jeweiligen Anlage erreicht ist. Probleme und Schäden an den Maschinen können so frühzeitig erkannt und verhindert werden. Das KI-System kann die Maschinen dann stillsetzen, und die Beschäftigten machen sich an die Wartung.

Je konkreter das zu lösende Problem innerhalb der Firma ist, desto besser für die Anwendung von KI, finden auch die Autor*innen der Deloitte-Studie. Sie raten vor dem Start zum Austausch mit Firmen, die schon KI-Erfahrungen gesammelt haben. Oft könne man so genau abwägen, ob es sich etwa lohnt, eine ganz individuelle Lösung selbst zu entwickeln, oder ob es reicht, eine schon etablierte Methode einzukaufen. Entscheidend aber sei, überhaupt ein Verständnis von künstlicher Intelligenz zu entwickeln. Sie sei weder ein Allheilmittel für alle Probleme noch ein Grund, aus Angst vor den Folgen ganz die Finger davon zu lassen. Sie schreiben: „Mittelständische Unternehmen sollten hier zunächst ein realistisches Erwartungsmanagement betreiben, indem sie sich umfassend informieren, auch externe Informationsquellen nutzen und das eigene Unternehmen und die bereits nutzbaren Technologien auf Anwendung im eigenen Unternehmen hin überprüfen.“

Sich im Internet ein paar schöne Bilder selbst herzustellen, um die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz zu bestaunen, wäre vielleicht kein schlechter Anfang.

Text: Constantin Wissmann
Grafik: Grafvish/Shutterstock

Dieser Text wurde erstmals in der UNTERNEHMERIN (2022/2) veröffentlicht.