UNTERNEHMERIN

Gute Hände gesucht

Der Fachkräftemangel schlägt in fast allen Branchen zu. Und das ist erst der Anfang, in den kommenden Jahren werden Prognosen zufolge Millionen Arbeitskräfte fehlen. Wie gehen Politik und Unternehmen damit um?

Anja Sandberg hat derzeit viel zu tun. Qualifizierte Mitarbeiter*innen finden, darum dreht sich gerade alles bei der Personaldirektorin der Hotelkette Waldorf Astoria in Berlin. Seit der Coronapandemie ist die Suche schwieriger geworden. Gerade im Gastgewerbe haben viele Menschen die Betriebe verlassen. Vom kleinen Italiener bis zur internationalen Hotelkette, Zehntausende Angestellte gingen verloren. Jetzt sind die Gäste zurückgekehrt – doch das Personal bleibt weg. Das hat einiges mit den Eigenheiten der Branche zu tun: eine ohnehin hohe Fluktuation, die Angst vieler, dass beim nächsten Pandemieausbruch Restaurants und Hotels wieder als Erstes geschlossen werden. Hier offenbart sich ein Problem, das viele Wirtschaftsforschende als hierzulande größtes der kommenden Jahre ausmachen: der Fachkräftemangel.

Gute Hände sind so gefragt wie lange nicht. Das ist überall zu spüren, man muss nur versuchen, eine*n Handwerker*in zu beauftragen, oder sich einmal in der Stadt umschauen. Auf dem Bau, in der Pflege, in den Schulen – überall werden Mitarbeiter*innen gesucht. Laut dem Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (Kofa) gibt es derzeit für 630 000 offene Stellen keine entsprechend qualifizierten Bewerber*innen. Zwar gibt es aktuell noch rund 2,4 Millionen Arbeitslose, die suchen aber oft nur einen Aushilfsjob, während knapp 85 Prozent der offenen Stellen besondere Qualifikationen erfordern.

Entscheidend sind dafür zwei Entwicklungen, sagt Lydia Malin, Kofa-Mitarbeiterin vom Kölner Institut der deutschen Wirtschaft. Da sei einmal die rasant steigende Konjunktur nach der Wirtschaftskrise 2008, die den Bedarf an Fachkräften ­immens erhöht habe. Zudem habe sich die Art der gefragten Arbeit geändert. Die Energiewende und der Wohnungsbau ­seien politisch forcierte Ziele, die ähnlich qualifizierte Mitarbeiter*innen insbesondere aus dem Handwerk erfordern. Außerdem führe der technologische Fortschritt dazu, dass in nahe­zu allen Wirtschaftsbereichen vermehrt IT-Fachkräfte gebraucht werden.

Hinzu komme der demografische Wandel, der sich ebenfalls doppelt auswirke. Die Babyboomer-Jahrgänge gehen in den Ruhestand. Mehr ältere Menschen brauchen auch mehr Pflegekräfte, von denen es wiederum nicht genügend gibt. Besser wird es erst einmal nicht. Die Demografie lässt das Arbeitskräftepotenzial bis zum Jahr 2035 um sieben Millionen Personen schrumpfen, hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung berechnet.

Das ist einer der Gründe, warum sich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) im März auf den Weg nach Kanada gemacht haben. Bezogen auf die Einwohnerzahl ist Kanada das Land mit der höchsten Zuwanderung von Arbeits- und Fachkräften weltweit. In den vergangenen 20 Jahren ist jährlich mindestens ein Prozent der kanadischen Bevölkerung im Ausland neu angeworben worden. So etwas würde die deutsche Politik auch gern schaffen. Schon beschlossen ist ein Gesetz zur Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes. Damit will die Ampel Menschen aus dem Ausland schneller und unbürokratischer nach Deutschland bringen.

Vor allem soll die Einwanderung leichter werden, beim Familiennachzug will man weniger streng sein, ebenso bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen. Im Gesetz enthalten ist auch die Einführung einer „Chancenkarte“. Die basiert auf dem Punktesystem, für das Kanada bekannt ist. In den Kriterien Sprachkenntnisse, Berufserfahrung, Alter und Deutschlandbezug können Einwanderungswillige Punkte erhalten. Die Gesamtzahl zählt, also kann ein hoher Deutschlandbezug etwa geringe Sprachkenntnisse ausgleichen. Wer genug Punkte zusammen hat, darf einreisen und bekommt ein Jahr Zeit, um in Deutschland einen festen Arbeitsplatz zu finden. Damit sich die Jobsuchenden in dieser Zeit finanziell über Wasser halten können, bietet die Chancenkarte zudem Möglichkeiten für Probearbeit oder eine Nebenbeschäftigung.

Es wird also etwas getan. Doch die entscheidende Frage ist: Reicht das? „Genauso heterogen, wie die Probleme sind, müssen auch die Lösungen sein“, sagt Lydia Malin. Inhaltlich sei die Politik mit dem neuen Einwanderungsgesetz oder auch mit dem Qualifizierungschancengesetz, das die Weiterbildung fördern soll, auf dem richtigen Weg. „Nur leider haben wir Deutschen ein Problem mit der Umsetzung, da es häufig zu viele bürokratische Hürden gibt.“ Das mache es vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen schwierig. Um sich mit den vielen Fallstricken herumzuschlagen, müssten sie extra Personal abstellen, das oft nicht vorhanden sei.

Die Hotelpersonalerin Anja Sandberg beklagt genau das. Viele neue Wege ist sie schon gegangen. Einen fünfstelligen Betrag hat ihre Kette investiert, damit die Stellengesuche auf den Fernsehern in U-Bahnen oder in den Warteräumen der Jobcenter zu sehen waren. Gebracht habe das wenig. Besser lief es mit der Recruiting-Plattform Jobilla. Angestellte, die neue Mitarbeiter*innen anwerben, bekommen einen Bonus von 500 Euro. Außerdem hat Anja Sandberg selbst die Hürden gesenkt. Bewerbungen können direkt per Handy eingereicht werden, formelle Anschreiben braucht es nicht. Doch das alles reicht nicht. Deswegen hat Anja Sandberg sogar eine Kooperation mit einer Hotelfachschule in Kenia ins Leben gerufen, die nach deutschen Standards ausbildet und prüft. „Die Absolvent*innen von dort können auch einen Krustenbraten zubereiten.“

Um die neuen Fachkräfte nach Deutschland zu bringen, müsse man sich jedoch durch einen „Bürokratiedschungel“ schlagen. „Es dauert einfach alles ewig. Dann hängt man in Telefonschleifen fest und muss Monate warten, bis etwas passiert.“ Inzwischen überlege sie, Mitarbeiter*innen nur für die Visumbeschaffung abzustellen. Hinzu komme die Wohnungssuche – in Berlin ein Spießrutenlauf. Ein Koch aus Kenia arbeitet nun in der Küche des Waldorf-Astoria in Berlin. „Das läuft prima“, sagt Anja Sandberg. Bis er das tun konnte, vergingen wegen der komplizierten Wohnungssuche allerdings sechs Monate. „Die zwei Hände haben uns sehr gefehlt.“

Doch nicht nur die Politik muss sich umstellen, auch die Unternehmen müssen das tun, sagt Forscherin Lydia Malin. Das Blatt im Spiel um die besten Leute habe sich gedreht. Mittlerweile müssen sich Arbeitgeber*innen bei den Arbeitnehmer*innen bewerben. Deren neue Macht haben auch die Tarifabschlüsse gezeigt, mit Lohnerhöhungen, von denen Gewerkschaften früher nicht zu träumen gewagt hätten. Doch das Gehalt allein sei nicht entscheidend, sagt Malin. „Den jungen Leuten geht es vor allem um flexible Arbeitszeiten nach ihren Vorstellungen. Und sie wissen, dass sie das fordern können.“

Marina Eibl weiß das genau. Vor vier Jahren hat sie sich mit der Life Steuerberatung selbstständig gemacht. Da war sie 29 Jahre alt. Als sie noch angestellt war, störte sie, dass ihr Job viel unflexibler war, als er es hätte sein können. „Ich reise sehr viel. Deshalb war es mir wichtig, die Firma so aufzubauen, dass ich von überall aus arbeiten kann.“ Seitdem hat sie 15 Mitarbeiter*innen eingestellt. Suchen musste sie nicht. „Es hat sich einfach herumgesprochen, dass es bei uns ein bisschen anders läuft“, sagt sie. Die Mitarbeiter*innen würden da auch selbst aktiv werden und von den guten Bedingungen erzählen. Feste Arbeitszeiten gebe es in der Firma nicht, keinen Präsentismus und keinen Dresscode. „Dafür eine hohe Motivation für selbstständiges Arbeiten.“ Im Büro selbst stehen nur vier Schreibtische, normalerweise arbeiten alle im Homeoffice. Dabei setzt Eibl konsequent auf digitale Tools. Das mache ihre Firma auch besonders attraktiv für Kund*innen aus dem digitalen Bereich. „Die arbeiten selbst so.“ Natürlich könne nicht jeder Betrieb dermaßen flexibel funktionieren, sagt Eibl. „Steuerberatung gilt ja als eingestaubte Branche. Wir wollen zeigen, dass es auch modern geht.“ 

Text: Constantin Wißmann
 

Dieser Artikel wurde erstmals in der UNTERNEHMERIN (2023/1) veröffentlicht.