UNTERNEHMERIN

Einfach alles anders – etablierte Branchen neu gedacht

Technologische Innovation in der Automobilbranche oder der Haushaltstechnik setzen wir voraus. Doch auch in traditioneller anmutenden Branchen wie dem Verpackungsdesign oder in der Bau- und Verlagsbranche verändert Innovation den Markt – weil die richtigen Frauen um die Ecke denken.

Manchmal ist es ganz leicht, sich am Puls der Zeit zu fühlen: Man hat das neueste Smartphone in der Tasche oder endlich den multifunktionellen Saugroboter im Einsatz, und das Gefühl von schöner neuer Welt setzt ein. Auch abseits solcher Alltagsinnovationen finden modernste Technologie und Innovation inzwischen Einzug in so viel mehr Lebens- und Arbeitsbereiche, dass das nervöse Kribbeln der Vorfreude bei näherem Hinschauen sofort einsetzt. Die Wege derjenigen, die mit ihren Ideen und Entwicklungen solche Gefühle auslösen, sind ganz individuell – und sich manchmal doch sehr ähnlich. 

Es ist ein unerwarteter Schlag für die Familie, der Larissa Zeichhardt und ihre drei Schwestern in die Situation bringt, sich nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters 2015 mit der Frage der Weiterführung der von ihm 1969 gegründeten Berliner Unternehmensgruppe LAT befassen zu müssen. Die studierte Ingenieurin für Kommunikationstechnik arbeitet zu diesem Zeitpunkt im Management eines Konzerns in Zürich. Larissa Zeichhardt holte ihre jüngere Schwester, die designierte Nachfolgerin, mit in die Geschäftsführung, die beiden anderen Schwestern sind ebenfalls Gesellschafterinnen. Die Mitarbeiter*innen von LAT installieren Sicherheitssysteme und Bahnstromanlagen für Züge ebenso wie Bahnhofsbeleuchtungen, Signaltechnik und Fahrgastanzeigen. Eine solide, etablierte Branche, als Puzzleteil der Verkehrswende ohne wirklichen Erneuerungsbedarf – könnte man denken. Doch als Larissa Zeichhardt in die Firma kam, war die erste interne Baustelle schnell ausgemacht: „Schwanger mit meinem zweiten Kind musste ich dezentral arbeiten können. Ohnehin sind auch unsere Mitarbeiter*innen historisch gesehen dezentral unterwegs – auf Baustellen, in Bauwagen, an wechselnden Orten.“ Aus der Notwendigkeit heraus kam sehr schnell die Idee, papierloses Arbeiten einzuführen – und das nicht nur für die zentral ansässigen Mitarbeiter*innen.  

Wichtig war der 42-jährigen Berlinerin von Anfang an, ein Konzept mit flachen Hierarchien und einer guten Fehlerkultur zu etablieren. „Wer Lust auf Innovation hat, darf keine Angst vor Fehlern haben. Wir müssen die Ärmel hochkrempeln, und wenn es etwas Besseres gibt, dann probieren wir das.“ So war die erste Idee für die Baustellen ein digitales Klemmbrett. Als dieses jedoch nicht genutzt wurde, war es einer der Bauleiter, der dann den Vorschlag einer App ins Spiel brachte. „Die richtige Inspiration kommt aus dem Feld“, sagt Zeichhardt. „Wer nicht weiß, wo das Tor steht, der kann es auch nicht treffen.“ Die App setzte sich durch und revolutionierte das Arbeiten bei LAT. Und ganz ohne Vorahnung war das Unternehmen durch diese Umstellungen schon bestens für die Coronajahre gewappnet.  

Hunger auf mehr, Lust auf Ideen und Mut zum Ausprobieren, all das hört man Larissa Zeichhardt in jedem Satz an. Sie kennt die Grenzen ihres Unternehmens und holt sich Unterstützung, wenn sie eine neue Idee hat. Einen Professor der Berliner Hochschule für Technik rief sie einfach an, weil sie Unterstützung für ein Projekt mit Robotern suchte. Und als sie in seinem Institut auf einen Kaffee vorbeikam, standen schon interessierte Studierende für einen Austausch bereit. Inzwischen ist daraus ein Innovationsprojekt erwachsen, das über die Grenzen Berlins hinaus inspiriert: Neben der BVG arbeiten die Uni Aachen, die Wiener Linien, DB Netz und die Kölner Verkehrsbetriebe mit. Für die Entwicklung von 5G-Antennen für den ÖPNV tat sich LAT mit Antonics zusammen, eine Lernapp für Azubis wird gemeinsam mit der IHK Berlin und simpleclub entwickelt. Mit den Antennen wollten sie die Ersten am Markt sein, inzwischen sind schon mehr als 3000 Stück im Einsatz.  

Die Zusammenarbeit mit starken Partnern ist für KMU essenziell, große EU-Förderprogramme wie Horizon 2020 sind viel zu komplex in der Antragstellung und Abrechnung, als dass sie ohne extra dafür eingestellte Mitarbeiter*innen gestemmt werden könnten. Zudem haben Kooperationen den positiven Nebeneffekt des Austauschs. Die Dynamik ihrer Arbeit ist spürbar ein großer Reiz für Larissa Zeichhardt, den sie mit ihren 130 Mitarbeiter*innen teilen möchte. So stehen für jede und jeden zweimal im Jahr Weiterbildungen auf dem Programm, die Neugier auf Möglichkeiten wird gefördert. „Wir dürfen das Spielen nicht verlernen und arbeiten nach dem Prinzip ‚fail fast‘: Ein Roboter sollte für die Bodenanalyse eingesetzt werden, das funktionierte nicht wie gedacht, heute dient er der Dokumentation“, so Zeichhardt. „Perfektion ist das Ergebnis vieler gescheiterter Anläufe. Eine gesunde Fehlerkultur ist dafür das A und O.“  

Für Syster Tjarks, Gründerin und Geschäftsführerin von Popular Packaging, und ihre Branche ist „fail fast“, das rasche Scheitern, keine Option: „Fehler sind teuer und nicht immer korrigierbar“, sagt die 51-jährige Hamburgerin. Doch nach einer erfolgreichen Karriere mit vielen Jahren im Verpackungsdesign, größtenteils für Fast Moving Consumer Goods, und Auseinandersetzungen mit klassischen Hierarchien wurde er auch bei ihr größer – der Hunger nach Veränderung und Weiterkommen. „Man stellt sich irgendwann die Frage, welche Industrie man unterstützt. Ich hatte und habe die Grundneugierde, dazuzulernen.“ Tjarks wagte den Neustart und startete 2020 mit zwei ehemaligen Mitstreiter*innen, die ebenfalls Lust auf den frischen Ansatz hatten, die Popular Packaging GmbH. Es war sofort klar, dass nach - haltige Verpackungen – damals noch ein Nischenthema – im Fokus stehen sollten. Dabei ging es aber nicht nur um das Design, sondern um den kompletten strategischen Prozess der Auseinandersetzung mit dem Produkt. „Natürlich habe ich Verpackungsingenieurwesen nicht gelernt, und Nachhaltigkeit ist so irrsinnig komplex. Das kann keiner allein leisten“, so Syster Tjarks. Darum etabliert sie das Future Pack Lab, ein Netzwerk unter ihrer Leitung. „Ein Kollektiv mit Expertise in den Bereichen Forschung, Strategie, Design, Material- und Verpackungstechnik. Ingenieur*innen, Rechtsanwält*innen sowie Innovations-, Marken- und Kommunikationsexpert*innen stehen uns hier zur Verfügung und ermöglichen es uns, je nach Projekt und Kunde ein individuelles Team zusammenzustellen“, erzählt die Mutter von zwei Kindern. Mit diesem Ansatz gelingt ein strategisches, ganzheitliches Konzept, das bereits große Kunden aus dem Lebensmitteleinzelhandel, der Kosmetikbranche und weiteren produzierenden Industrien begeistert hat. Heute hat ein solch nachhaltiger Ansatz natürlich einige Marktbegleiter gefunden, mit ihrem innovativen ganzheitlichen, strategischen Konzept sind Syster Tjarks und ihr Team jedoch nach wie vor eine Besonderheit. „Es gibt keinen Weg zurück“, sagt sie, „wir haben uns unseren Spielplatz selbst geschaffen, und der bringt unheimlichen Spaß.“ Mit dieser Begeisterung im Hinterkopf rät auch sie dazu, sich auf Veränderungen einzulassen, den eigenen Erfahrungsvorsprung zu nutzen und davon überzeugt zu sein, „dass heute ein großartiger Zeitpunkt ist, um als Frau selbstständig zu sein“.  

Die Überzeugung, mit Haut und Haaren drinzustecken in der einzig richtigen Entscheidung, lebt auch Antonia Schulemann. Nach ihrem Studium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie der Neueren Deutschen Literatur und Stationen als Journalistin und Redakteurin, im Marketing, Management und als Co-Gründerin traute sich die 43-jährige Hamburgerin 2021, in ihrer Wahlheimat Berlin die Große Hamburger (GH) Medienhaus Berlin GmbH zu gründen. Als Autorin, die in einem klassischen Literaturverlag veröffentlicht hatte, war sie vertraut mit dem herkömmlichen Weg eines Romans vom ersten Gedanken bis in den Buchladen. Was ihr dabei fehlte, gar unverständlich vorkam, das wollte sie selbst anders machen und damit der Verlagswelt eine völlig neue Komponente hinzufügen: „Es gibt so viel Raum, so viele Möglichkeiten. Die Deutschen lieben Print, dank Booktok haben wir inzwischen sogar eine riesige junge Zielgruppe. Das Buch lebt! Aber gesehen werden ist nicht einfach“, so Schulemann. Mit GH Medienhaus Berlin will sie ihre Autor*innen idealerweise von der ersten Buchidee an begleiten. Die Möglichkeiten der Vermarktung werden dabei schon in den Kinderschuhen mitgedacht, auch um nicht am Markt vorbei zu veröffentlichen.  

So schreibt sie den jährlichen Literaturwettbewerb – der sich ausschließlich an Debütschreiber*innen und -illustrator*innen richtet – sehr gezielt zu einem bestimmten Sujet aus, von dem sie und ihr Team sich ein möglichst großes Echo bei der potenziellen Leserschaft versprechen. Der Erfolg gibt ihnen Recht: In diesem Jahr erreichten sie mehr als 200 Einsendungen, die sich auf sehr hohem Niveau zeitkritisch unserer Gegenwart widmeten. Gewonnen hat mit Alina Dudek eine praktizierende Psychotherapeutin, ihr Roman „Berlin 2048“ er - scheint im Herbst dieses Jahres bei Books on Mars, einem Imprint von GH. Die Zielgruppe schon bei der Entstehung der Publikation mitzudenken, das macht Schulemanns Ansatz so innovativ. „Die Leser*innen fragen sich: ‚Welches Buch passt zu mir? Welches Buch bereichert mich?‘ Schon da wollen wir sie abholen. Welche Podcasts hören unsere potenziellen Leser*innen, welche Social-Media-Kanäle nutzen sie? Wo erreichen wir sie am besten? Lasst uns so tief wie möglich in diejenigen reinspüren, die das Buch kaufen.“ So betreuen Antonia Schulemann und ihr Team ihre Projekte und Autor*innen von der Ideenfindung bis zur Leserin oder zum Leser und praktizieren damit ebenjenen ganzheitlichen Ansatz, von dem auch Syster Tjarks so überzeugt ist.  

Die Überlegungen zum Scheitern als Versuch mögen sich bei den drei Frauen unterscheiden, aber Larissa Zeichhardt und Syster Tjarks dürften zustimmen, wenn Antonia Schulemann sagt: „Als Unternehmerin geht man eine Symbiose mit dem Job ein. Es schläft sich definitiv anders; das Gewicht, das man auf den Schultern trägt, ist immer da. Doch meine Arbeit ist eine wirkliche Leidenschaft, ich mache genau das, was ich möchte.“ Als Frau in dieser Position zu sein, allein das mutet für manch eine noch immer innovativ an – von den unternehmerischen Innovationen ganz zu schweigen. 

 

Text: Anne Rudelt 

© Andrii Yalanskyi / Shutterstock; Anne Großmann Fotografie; Popular Packaging GmbH;  GH Medienhaus Berlin GmbH 

 

Dieser Beitrag wurde erstmals in der UNTERNEHMERIN 01/24 veröffentlicht.