UNTERNEHMERIN

Die Macht des Unsagbaren

Jenseits des Dekorativen: zur Rolle von KUNST in der modernen Arbeitswelt 

Kann ein Gemälde den Verlauf eines Meetings verändern? Oder Mitarbeiter*innen innovativer machen? Diese Fragen mögen auf den ersten Blick ungewöhnlich, ja vielleicht sogar etwas naiv erscheinen. Dem entgegen steht eine Anekdote, die Alice Jay von Seldeneck erzählt. Sie ist geschäftsführende Gesellschafterin der Lempertz KG, des ältesten deutschen Auktionshauses mit Sitz in Berlin: „Kunst bietet oft einen informellen und persönlichen Gesprächseinstieg. Ein bedeutender Schweizer Unternehmer hat mir mal gesagt: ‚Wenn ein Geschäftspartner im Eingang meines Unternehmens zunächst auf eine Arbeit von Cosima von Bonin schaut, gehen wir anders ins Gespräch, als wenn er im Angesicht eines Gummibaumes auf mich wartet.‘“ 

In einer Zeit, in der das Büro neu definiert wird, entdecken Unternehmen die Kraft der Kunst, um beispielsweise Kreativität zu fördern oder das Wohlbefinden der Mitarbeiter*innen zu steigern. Die vielfältigen Beziehungen zwischen Kunst und Unternehmertum haben dabei eine lange Tradition – angefangen bei den ersten privaten Kunstförderern der Antike, den Mäzenen, über die Kaufleute und Bankiers in der Renaissance bis hin zur Sammlungstätigkeit von Unternehmer*innen seit dem Zeitalter der Industrialisierung. Nicht selten diente Kunst als Ausdruck des kulturellen Erbes und der Identität einer Familie. 

Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte sich in Deutschland ein gesteigertes Interesse von Unternehmen an Kunst. Beispielhaft dafür steht das Engagement des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI, 1951 in Köln gegründet und heute in Berlin ansässig. Unter den rund 450 Mitgliedern befinden sich viele führende deutsche Unternehmen, Wirtschaftsverbände und Unternehmerpersönlichkeiten. Neben der Kunstförderung unterstützt der Verein den Dialog zwischen Wirtschaft und Kultur und setzt sich für eine Gesellschaft ein, in der Kunst und Kultur als unverzichtbare Ressourcen verstanden werden. 

In der Arbeitswelt kann Kunst zahlreiche Funktionen erfüllen: Sie dient der Repräsentation nach außen, kommuniziert die Markenidentität nach innen, stärkt das Gemeinschaftsgefühl, fördert den Austausch und die Kommunikation, kann Emotionen auslösen, inspirierend auf Mitarbeiter*innen wirken oder schlicht die Raumatmosphäre verändern. Die gegenwärtigen Trends in der Bürogestaltung spiegeln eine tiefgreifende Veränderung im Verständnis von Arbeitsumgebungen wider. Sie werden auf Flexibilität und das Wohlbefinden der Mitarbeiter*innen ausgerichtet: offene Grundrisse mit Rückzugsräumen, ergonomische Arbeitsplätze, technologische Integration, akustische Designelemente, personalisiertes Lichtkonzept, Grünpflanzen – und eben Kunstwerke. 

In diesem Wandel kommt die Erkenntnis um die Bedeutung eines gemeinsamen Arbeitsortes für Produktivität und Kreativität zum Ausdruck. „Durch die Coronazeit hat sich in vielen Branchen das Homeoffice etabliert. Unternehmen versuchen jetzt wieder, Anreize für Büroarbeit zu schaffen. Es wird viel an Einrichtungen und dem Wohlbefinden am Arbeitsplatz gearbeitet. Dazu gehört natürlich auch die Kunst“, erklärt Alice Jay von Seldeneck. „Für mich ist ein Leben ohne Kunst kaum vorstellbar. Sie fördert die Kreativität, verbindet und inspiriert.“ Als Geschäftsführerin des Auktionshauses Lempertz hat von Seldeneck einen einzigartigen Blick auf den Kunstmarkt. „Mein Unternehmen gäbe es ohne die Kunst natürlich gar nicht. Was mich persönlich nach all den Jahren immer noch erstaunt: zu beobachten, wie sich unsere Ausstellungsräume im Laufe des Jahres verändern.“ Der Effekt unterschiedlicher Kunstwerke werde dabei deutlich. „Jedes Mal sitze ich in einem völlig anderen Raum. Diese gestalterische Kraft nutzen viele Sammler*innen für sich, wenn sie ein Haus, eine Wohnung oder eben ein Büro neu beleben möchten. Dabei gilt: Neue Kunst bringt mehr als neue Farbe!“ 

Gerade in den vergangenen Jahren habe sich insbesondere das Verhältnis von Unternehmer*innen zur Kunst verändert: „Viele Unternehmer*innen kaufen zeitgenössische Kunst für ihre Büros. Mit Lempertz waren wir die Ersten, die Contemporary Art als Sekundärmarkt angeboten haben. Mit Erfolg! Manche Unternehmen, die eine Sammlung aufbauen, kaufen auch bei Galerien oder direkt bei den Künstler*innen ein – aber nicht selten kommen sie zu uns, um ihre Sammlung später abzurunden. Einige große, sehr namhafte Werke konnten wir in den vergangenen Jahren an Unternehmen verkaufen. Das freut nicht nur uns, sondern meistens auch die Künstler*innen sehr, weil ihre Kunst auf diesem Weg vielen Menschen präsentiert wird.“ 

Kunst kann nicht nur in Büros für Inspiration und Motivation sorgen oder zur Stärkung der Corporate Identity genutzt werden. Das stellt das Museum Ritter unter Beweis. 2005 eröffnet, beherbergt das Museum im württembergischen Waldenbuch moderne Kunst, die das Quadrat als Leitmotiv hat. Es handelt sich um Werke aus der Sammlung von Marli Hoppe-Ritter, Gesellschafterin der Alfred Ritter GmbH & Co. KG, des Unternehmens hinter der bekannten Schokoladenmarke Ritter Sport. Marli Hoppe-Ritter sammelt seit mehr als 30 Jahren abstrakt-geometrische Kunstwerke. „Im Jahr 2002 habe ich beschlossen, ein eigenes Museum zu bauen, in direkter Nähe zur Fabrik. Auch als Bekenntnis zum Standort Waldenbuch.“ Das Museum richte sich an die Öffentlichkeit, aber insbesondere an die Mitarbeiter*innen des Unternehmens, erklärt Hoppe-Ritter. 

„Wir machen viele Veranstaltungen und Ausstellungen. Wichtig ist, dass es ein lebendiges Museum ist, in dem die Menschen sich wohlfühlen und einbringen können, indem man sie beispielsweise befragt, welches Lieblingsbild sie haben, oder Workshops veranstaltet.“ Ein Projekt liegt ihr dabei besonders am Herzen: Vor 15 Jahren durften Mitarbeiter*innen Kunstwerke mit nach Hause nehmen. Die Aktion wurde von einer Künstlergruppe begleitet, die sie dort mit den Bildern fotografierten. Die Fotos wurden anschließend im Museum präsentiert. „Das kam sehr gut an damals und ist bis heute meine Lieblingskunstausstellung“, erzählt sie begeistert. 

Zwar sei der Effekt von Kunst nur schwer messbar, den - noch betont Hoppe-Ritter: „Ich glaube fest daran, dass sich Kunst positiv auf die Arbeitsatmosphäre auswirkt.“ Eine Besonderheit ihrer Kunstsammlung besteht darin, dass Mitarbeiter*innen sich Bilder für ihr Büro, für die Kantine oder für die Besprechungsräume ausleihen können. Schon bevor es das Museum gab, war klar, dass die Sammlung dem Unternehmen dienen soll. „Es gibt einen Pool, aus dem sich die Mitarbeiter*innen etwas aussuchen können. Ich denke, dass es inspirierender ist, mit Originalen den Arbeitsalltag zu verbringen als mit beliebigen Drucken. Originale haben eine Einzigartigkeit, eine besondere Aura. Von meiner Seite ist das zudem als Wertschätzung gedacht für die Menschen, die im Unternehmen arbeiten.“ 

Kunst ist für Marli Hoppe-Ritter eng mit den Geschicken des Unternehmens verknüpft: „Mein Ursprungsgedanke mit der Kunstsammlung war, dass wir uns damit auch in Richtung Innovationsfreudigkeit bewegen. In den Achtzigerjahren gab es eine Phase in unserem Unternehmen, in der wir nur auf die klassischen Produkte gesetzt haben. Seitens der Geschäftsführung gab es wenig Bereitschaft, Risiken einzugehen. Dem wollte ich damals etwas entgegensetzen und dafür Sorge tragen, dass der kreative Raum geöffnet wird. Ich denke, das ist gelungen.“ 

Neues zu wagen ist angesichts der immensen Aufgaben, vor denen Unternehmen im Einzelnen und die Wirtschaft als Ganzes stehen, heute wichtiger denn je. Kunst kann Menschen inspirieren, aber auch irritieren, indem sie sie dazu bringt, innezuhalten, nachzudenken und in Austausch zu kommen. Unternehmer*innen wie Alice Jay von Seldeneck und Marli Hoppe-Ritter machen deutlich, welches Potenzial Kunst für die Gestaltung der Arbeitswelt bietet. Goethe nannte die Kunst einmal „eine Vermittlerin des Unaussprechlichen“. Vielleicht liegt gerade in solchen Fähigkeiten ihr wahrer Wert für die moderne Arbeitswelt: neue Perspektiven zu eröffnen und mehr Fragen aufzuwerfen als Antworten zu liefern.

Text: Christian Schön © Alicia Minkwitz; Andreas Sporn; Museum Ritter; Die Filderbahnfreundemöhringen FFM, (Arbeit)², 2008 / Andrea Schreiber (Produktion-Massiv) mit Hans-Peter Adamski, Nicht Ruhe geben, bevor die Erde quadratisch ist, 1999 © VG Bild-Kunst, Bonn 2024 / Filderbahnfreundemöhringen, Foto: Oana Vainer

Dieser Artikel wurde erstmals in der UNTERNEHMERIN 02/24 veröffentlicht.