UNTERNEHMERIN

Der digitale Staat

Bund, Länder und Kommunen: Strategien zu Digitalisierung gibt es viele, doch wo steht Deutschland wirklich? Ein Gespräch mit der Digitalexpertin Nadine Schön, MdB.

Frau Schön, Corona gilt als der Digitalisierungsbooster schlechthin. Die öffentliche Verwaltung hat mit der Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft nicht Schritt halten können. Das Ziel des Onlinezugangsgesetzes, bis Ende dieses Jahres 575 behördliche Leistungen von Bund, Ländern und Kommunen über Verwaltungsportale online verfügbar zu machen, wird nicht erreicht werden. Stand November 2022 sind erst 101 Leistungen digital nutzbar. Wo hakt es nach Ihrer Einschätzung?

Wir haben in Deutschland komplexe föderale Strukturen und eine heterogene IT-Landschaft. Darin sehe ich einen gewichtigen Grund, warum wir bei der Verwaltungsdigitalisierung nicht in der gewünschten Geschwindigkeit und Qualität vorankommen. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass es gelingen wird, mithilfe des Onlinezugangsgesetzes sämtliche Verwaltungsleistungen online zu bringen und durch das Registermodernisierungsgesetz den Datenaustausch unter den Behörden zu verbessern. Mit diesen beiden Gesetzen haben Bund, Länder und Kommunen die Grundlagen geschaffen, Verwaltungsprozesse zu digitalisieren und damit das Leben von Bürger*innen und Unternehmen einfacher zu machen. Insbesondere seitdem wir 2020 als Bund Konjunkturmittel in Höhe von drei Milliarden Euro bereitgestellt haben, ist die Dynamik deutlich besser. Das Onlinezugangsgesetz läuft Ende des Jahres aus. Ich hätte mich gefreut, wenn der Bund mit den Ländern schon jetzt ein Nachfolgegesetz beraten hätte. Gerade in einer Zeit, in der Kommunen und Länder große Herausforderungen bewältigen müssen, brauchen sie rechtliche, finanzielle und zeitliche Planungssicherheit für die weitere Verwaltungsdigitalisierung.

Wie will man denn verhindern, dass alle – Bund, Länder, Kommunen – weiter ihr eigenes Süppchen kochen?

Das „Einer für alle“-Prinzip (EfA) als Herzstück des Onlinezugangsgesetzes bringt eine bessere Standardisierung und Dynamik mit sich, weil Kommunen und Länder nicht nur für sich selbst gestalten, sondern erfolgreiche Digitalisierungsverfahren deutschlandweit ausrollen. Zahlreiche positive Beispiele gibt es bereits, so konnte etwa im Frühjahr 2020 innerhalb weniger Wochen über den EfA-Dienst die Entschädigung nach dem Infektionsschutzgesetz bereitgestellt werden. Das EfA-Prinzip ist ambitioniert – es fordert alle Verwaltungsebenen zu einer neuen Art der Zusammenarbeit auf. Das muss gut moderiert und gesteuert werden, unter anderem durch eine Plattform, auf der Angebot und Nachfrage aus ganz Deutschland unkompliziert zueinanderfinden. Das soll der „FIT-Store“ der FITKO, der Föderalen IT-Kooperation, leisten. Ein Punkt, an dem es derzeit knirscht, denn die FITKO ist personell und finanziell noch nicht ausreichend ausgestattet, um den Ausbau der föderalen IT-Kooperation tatkräftig zu unterstützen und flexibel auf die Bedarfe von Bund, Ländern und Kommunen zu reagieren. Nachholbedarf gibt es auch bei Kommunikation und Marketing. So hat jüngst die Studie zum „eGovernment Monitor“ gezeigt: Nur weil etwas digital verfügbar ist, wird es noch lange nicht von allen genutzt – es fehlt teils an Vertrauen, teils an Bekanntheit von Onlinediensten der Verwaltung. Das ist unbefriedigend, denn Digitalisierung soll ja nicht nur das Verwaltungsarbeiten effizienter machen, sondern in der Bevölkerung und bei den Unternehmen auch wirklich ankommen.

Was sind die drängendsten Projekte und Themen, die in den kommenden Jahren vorangebracht werden müssen, damit die öffentliche Verwaltung nicht nur mit der Digitalisierung Schritt hält, sondern Vorreiter werden kann?

Drei Projekte sind essenziell für die digitale Verwaltung. Erstens die Registermodernisierung. Alle Daten, die der Staat von seinen Bürger*innen erhebt, müssen in modernen und inter-operablen Registern gespeichert werden. Dabei müssen wir konsequent auf das „Once only“-Prinzip setzen, das heißt, die Basisdaten der Bürgerinnen und Bürger werden nur ein einziges Mal erhoben und gespeichert. Jede Behörde, die persönliche Daten braucht und dazu berechtigt ist, kann die entsprechenden Daten beim Register zur einmaligen Nutzung anfordern. Transparenz darüber schafft das Datenschutzcockpit. Damit das alles klappt, brauchen wir eine grundsätzliche Modernisierung der deutschen Registerlandschaft, hier zögert die aktuelle Bundesregierung leider. Zweitens, die Einführung einer digitalen Identität und damit verbunden drittens die Abschaffung der Schriftformerfordernisse. Schnell über das Handy den Personalausweis verlängern, das BAföG oder den Reisepass beantragen, es könnte so einfach sein, wenn wir eine digitale Identität hätten. Hier haben wir in den vergangenen Jahren einiges ausprobiert und mit der eID-Funktion des Personalausweises auch eine technische wie rechtssichere Grundlage geschaffen. Jetzt muss das konsequent weiterverfolgt werden, etwa mit dem Projekt „Smart eID“, das den Personalausweis auf das Handy übertragen könnte. Wichtig wäre, dass auch Unternehmen und Banken mitmachen.

Die Digitalstrategie des Bundes hat ein Jahr gebraucht. Die Ansätze sind gut, aber eine Umsetzungsstrategie mit überprüfbaren Meilensteinen für die Vorhaben ist sie bisher nicht.

Worin sehen Sie die größten Herausforderungen bei der Umsetzung?

In jeder Unternehmensstrategie bilden Meilensteine, Etappenziele und Kennzahlen die Grundlagen für die Umsetzung. Doch in der vorliegenden Digitalstrategie der Bundesregierung fehlt das alles oder wird ambitionslos ausgestaltet. Bei mehreren Zielen wird angekündigt, sich an Verbesserungen messen zu lassen. Dann wird nur die Ausgangslage genannt, nicht aber das Ziel, das man erreichen will. Eine Verbesserung um einen Prozentpunkt, etwa beim Anteil der Gründer*innen, bei der Anzahl der Unicorns oder bei den IT-Absolvent*innen, wäre also schon eine Erfüllung dieser Ziele. Das ist mir deutlich zu wenig. Außerdem verliert sich die Digitalstrategie leider wie-der in vielen Einzelprojekten der Ressorts.

Das Kompetenz- und Verantwortungswirrwarr in und zwischen Bund, Ländern und Kommunen hemmt die digitale Transformation. Wäre es nicht jetzt an der Zeit, den Mut und den langen Atem aufzubringen, das dicke Brett einer Verwaltungsreform zu bohren?

An der Zeit ist es! Wir haben tiefgreifende Reformen in Staat und Verwaltung zu bewältigen. Mit Klein-Klein ist es nicht getan. Wir haben mit unserem „Neustaat“-Projekt eine klare Agenda entwickelt, wo es hingehen soll. Es braucht ein Reformjahrzehnt, das unsere 200 Jahre alten Verwaltungsstrukturen von Grund auf reformiert. Eine umfassende Staatsmodernisierung hat die Ampel übrigens in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, bisher bleibt es jedoch bei der Zielbeschreibung. Gerade in Krisenzeiten wäre es so wichtig, Staat und Verwaltung zu modernisieren, aber es fehlen dafür das versprochene Digitalbudget und eine treibende Kraft, um zentrale Projekte voranzubringen und das Zuständigkeitswirrwarr aufzulösen. Insofern befürchte ich, dass in den nächsten Jahren kein digitaler Wumms für die Verwaltung kommen wird.

Mitte vergangenen Jahres ist das „Elster“-basierte Unternehmenskonto in einzelnen Bundesländern an den Start gegangen. Wie sehen Sie die Chance, dass das von vielen Unternehmen sehnlichst erwartete einheitliche und ämterübergreifende Unternehmensportal, auf dem alle Verwaltungsleistungen aus ganz Deutschland gebündelt verfügbar sein sollen und sich Unternehmen im Sinne des „Once only“-Prinzips nur einmal registrieren müssen, zeitnah verfügbar ist?

Das Ziel, eine effizientere Interaktion zwischen Unternehmen und Behörden zu ermöglichen, ist gesetzt, und beim Unternehmenskonto gab es auch Fortschritte. So ist das bayerische Modell des Kontos seit mehr als einem Jahr im Roll-out. Auch die Verwaltungsvereinbarung, mit der die Anbindung des Organisationskontos bei Bund und Ländern rechtlich geregelt werden soll, scheint auf der Zielgerade. Bis eine Plattform realisiert ist, die als zentrale Anlaufstelle für alle Verwaltungstätigkeiten von und mit Unternehmen dienen kann, wird es aber noch dauern. Ich wünsche mir natürlich auch hier mehr Tempo.

Um eine gerechte digitale Gesellschaft zu erreichen, müssen Frauen und Männer gleichberechtigt digitale und technologische Entwicklungen mitgestalten können. Davon sind wir aktuell weit entfernt. 2021 lag der Anteil von Frauen in MINT-Berufen bei niedrigen 15,5 Prozent, der Anteil der Start-up-Gründerinnen bei 20 Prozent. Wo sehen Sie die Stellschrauben, um den Zugang von Frauen zur Gestaltung digitaler Technologien zu verbessern?

Egal ob Entwicklung von KI-Algorithmen oder Berufe in MINT-Fächern – die Digitalisierung braucht in allen Bereichen deutlich mehr Chancen für Mädchen und Frauen. Wandel beginnt mit einem neuen, motivierenden Rollenbild für Mädchen, das vom Elternhaus geprägt werden muss. Zudem kann in Kita und Schule viel Motivierendes geleistet werden, was dann später in den Beruf trägt. Ich bin zum Beispiel ein großer Fan vom Haus der kleinen Forscher, das es deutschlandweit mit tollen Projekten schafft, die Neugier der Kinder zu wecken und auch den Erzieherinnen und Erziehern gute Vorschläge für MINT-Förderung an die Hand gibt. Oder vom Projekt YouCodeGirls, das besonderen Wert auf eine geschlechtergerechte Ansprache von Mädchen legt. Die Politik kann den Rahmen für eine gerechte digitale Gesellschaft liefern, etwa Gründerinnen im besonderen Maße fördern und solche Projekte und Initiativen finanziell unterstützen, aber die Transformation selbst müssen wir – Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft – gemeinsam vorantreiben. Deshalb haben wir vor einem guten Jahr die Initiative #SheTransformsIT gegründet, um gemeinsam das Ziel, dass mehr Frauen die Digitalisierung gestalten, zu erreichen. Wir freuen uns über weitere Mitstreiterinnen in dem Netzwerk.

Nur wer versteht, wie digitale Technologien funktionieren, sowie ihre Potenziale und Risiken kennt, kann ein digitales Mindset entwickeln. Es wird vielerorts bemängelt, dass die Digitalkompetenz der Mitarbeiter*innen in den Behörden nicht ausreicht, um bei der digitalen Transformation der Verwaltung mitzugehen oder sie gar mitzugestalten. Was muss getan werden, um die Digitalkompetenz in den Behörden auszubauen?

Ich bin überzeugt, dass sich in den vergangenen Jahren viel in der deutschen Verwaltung bewegt hat. Mit den Digital Natives rücken viele nach, die digitalaffin und diesbezüglich besser ausgebildet sind. Gleichzeitig gibt es viele, die die Modernisierung der Strukturen von innen vorantreiben und etwas verändern wollen. Ein Dilemma ist, dass IT-Fachleute in allen Bereichen gesucht werden, nicht nur in der Verwaltung. Daher finde ich Projekte wie Tech4Germany und Work4Germany, die seit 2020 digital- und methodenstarke Fellows aus der Privatwirtschaft in die Ministerien bringen, so wichtig, um Akzeptanz und Know-how zu fördern. Außerdem geht es um systematische Ausbildung der Mitarbeiter*innen, wie sie etwa die Digitalakademie des Bundes leisten soll. Schließlich brauchen wir ein neues Mindset: Neue Impulse von engagierten Menschen müssen von oben gehört und gefördert werden.

Lebenslanges Lernen war vielleicht noch nie so bedeutsam wie im Zuge der zunehmenden Digitalisierung von Arbeitswelt und Alltag. Wie bleiben Sie in ihrem Arbeitsalltag up to date?

Ich bin zwar per Definition kein Digital Native, aber durch meine Arbeit als Digital-, Bildungs- und Forschungspolitikerin ganz nah dran an innovativen Themen. Ich nutze häufig die Möglichkeit in Berlin oder im Wahlkreis, mein Fachwissen durch praktische Beispiele zu unterlegen und mich mit Menschen auszutauschen, die in ihren Bereichen Expert*innen sind. Zusammen mit meinem Team teste ich gern neue Tools und Methoden. Auch wir wollen täglich besser werden, und der Schlüssel liegt oftmals in digitalen Lösungen.

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ZUR PERSON

NADINE SCHÖN ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags. Seit 2014 verantwortet sie als stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag das Themenfeld Digitales, seit Ende 2021 ist sie darüber hinaus für den Themenbereich Bildung und Forschung zuständig.  Nadine Schön ist außerdem Vorsitzende der CDU-Landesgruppe Saarland. Daneben ist sie Mitglied in der Fachkommission Humane Digitalisierung im Grundsatzprogrammprozess der CDU, Beiratsmitglied des KI-Campus und des Thinktanks EPICO. Außerdem engagiert sie sich im Steuerungskreis der Initiative #SheTransformsIT. Darüber hinaus ist sie Mitglied des Kuratoriums des Kompetenzzentrums Technik-Diversity-Chancengleichheit. Zusammen mit Thomas Heilmann hat sie im Jahr 2020 das Buch „Neustaat – Politik und Staat müssen sich ändern“ herausgegeben. Nadine Schön lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern im Saarland.

Interview: Anke Janetzki
Foto: Tobias Koch

Dieses Interview wurde erstmals in der UNTERNEHMERIN (2022/2) veröffentlicht.